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Die beste Therapie - eine Buchbesprechung


Der kanadische Arzt und Neurowissenschaftler Dr. Russell Kennedy hat 2020 sein Buch herausgebracht, genau als Covid und Lockdowns das Thema Angststörungen so richtig ans Tageslicht gezerrt haben. Leider ist der Titel immer noch nicht auf Deutsch erhältlich und darum habe ich mich zu dieser Buchbesprechung entschlossen. Warum? Schließlich gibt es Bücher über die Angst wie Sand am Meer. Weil Dr. Kennedy ein genialer Vereinfacher-und Auf-den-Punkt-Bringer ist.



Ich erkläre das mal an Hand der Ursachen für Angststörungen. Wir werden nicht mit den üblichen langen Listen von möglichen Auslösern konfrontiert, sondern nur mit einem Satz: Angst ist immer Trennungsangst. (All anxiety is separation anxiety.) Hier zwei Beispiele, die das Konzept erläutern: In Dr. Kennedys Praxis kommt es immer wieder vor, dass Klienten sagen, dass sie eine glückliche Kindheit hatten und sich nicht vorstellen können, dass die Ursache ihrer Panikattacken und Angstzustände von einem Kindheitstrauma herrühren. Aber sehr oft stellt sich dann heraus, dass diese Menschen als Neugeborene Wochen oder Monate im Brutkasten, im Krankenhaus und getrennt von den Eltern verbringen mussten. Schlecht vorzustellen und oft als esoterisch abgetan, dass derart frühe Erlebnisse auf diese Weise ein Leben beeinflussen können, aber nicht ungewöhnlich.


Das zweite Beispiel ist die häufigste Ursache von Angststörungen aller Art: die Trennung vom Selbst. Wenn etwa Opfer extremer Gewalt sich selbst außerhalb ihres Körpers wahrnehmen, kommt es zur Spaltung und zur Abtrennung eines Teils des Selbst. Unter weniger drastischen Umständen tritt die Trennung vom Selbst oder Teilen des Selbst auf, wenn Kinder etwa ständig zurück- und zurechtgewiesen werden, ständig wechselnden Launen der Eltern ausgesetzt sind oder mit Problemen konfrontiert werden, die sie mit den Ressourcen eines Kindes nicht bewältigen können.


Wie sieht der Weg zur Heilung aus? Dr. Kennedy verkündet den Primat des Körpers, des Gefühls über das Denken. (You can’t think your way out of a feeling problem.) Um die Angst oder den angstmachenden Teil des Selbst erfolgreich zu integrieren, ist Schritt 1, das Gefühl im eigenen Körper zu finden. Wo im Körper manifestiert sich die Angst? Bauch, Magen, Zwerchfell, Herz, Kehle, Kopfschmerz? Finde das Gefühl und beschreibe es so detailliert wie möglich. Welche Größe, Form, Farbe hat, was da in deinem Körper sitzt? Ist es schwer oder eher wie ein Ballon, der das Herz zu sprengen droht?


Schritt 2 ist die Anwendung somatischer Übungen, der Weg, den Körper zu beruhigen und über den Körper das Nervensystem. Dr. Kennedy beginnt mit dem Atem. Hast du das Gefühl identifiziert und beschrieben, versuche nicht, es abzuschalten, sondern atme. Lege beide Hände übereinander auf den Körper, dort wo du die Angst fühlst und atme. Atme durch dieses Gefühl hindurch. Kennedy empfiehlt, die Lungen mit 2-3 Atemzügen zu füllen und dann mit der Lippenbremse so langsam wie möglich auszuatmen. Versuche nicht, das Gehirn einzuschalten und das Gefühl zu erklären. Bleibe einfach bei dem Gefühl und atme. (Sensation without Explanation)


Schritt 3: Achtsamkeit. Achtsamkeit meint hier das bewusste Beobachten dieses Angstgefühls. Finde die Auslöser; lerne, worum es geht! Welche Trennung sitzt in deinem Körpergedächtnis fest und produziert die Symptome deiner Angststörung. Selbstverständlich können Angststörungen auch im Erwachsenenalter ausgelöst werden, etwa durch Unfälle oder Gewalterfahrungen. Kann das ausgeschlossen werden, haben wir es eigentlich immer mit einem Kindheitstrauma zu tun. Dabei können auch Dinge ein solches Trauma produzieren, die deinem erwachsenen Selbst als unwichtig oder lächerlich erscheinen. Beispiel: Als es in der Schule mit dem Sprachenlernen losging, hat mir mein Vater mit einem Glas Rotwein in der Hand erklärt, dass man eine Sprache nur erlernen kann, wenn man kein Wörterbuch benutzt. Mein 8 oder 9 Jahre altes Selbst hat das für bare Münze genommen und ich bin in der Schule krachend am Sprachunterricht gescheitert. Als ich meinen Vater Jahrzehnte später darauf angesprochen habe, konnte er sich nicht vorstellen, jemals etwas derartig Dummes geäußert zu haben … Alles, was ein Kind nicht richtig versteht, nicht korrekt einordnen kann, kann ein Trauma kreieren. Ganz besonders, wenn das auslösende Ereignis vor dem fünften oder sechsten Lebensjahr stattfindet, wird es nicht im Gedächtnis abgespeichert, sondern als Spannung im Körper angelegt. Gibt es dann über die folgenden Jahre Verstärker, ähnliche Ereignisse, die die ursprüngliche Erfahrung zu bestätigen scheinen, wächst das Problem und Symptome erscheinen.


Schritt 4: Wie gehen wir damit um? Dr. Kennedy arbeitet konsequent mit dem inneren Kind, dem jüngeren Selbst. Erkenne, dass es dein jüngeres Selbst ist, das gesehen, gehört und geliebt werden will. Was immer die Verletzung ist, die das Kind mit sich trägt, nimm es in den Arm und sage ihm/ihr, dass du es liebst und von nun an für dieses Kind da bist. Sprich mit dem Kind, mache klar, dass du jetzt erwachsen bist und jede Menge Ressourcen hast, die dem Kind nicht zur Verfügung standen. Ein ganzes Kapitel widmet der Doktor dabei unserer Superresource: der Liebe.


Das Buch ist voller erhellender Einsichten und keine erfolgreiche Therapie von Angststörungen kann ohne die beschriebenen Schritte auskommen. Ob du selbst unter einer Angststörung leidest oder ob du therapeutisch arbeitest, hier gibt es etwas zu lernen. Wer englisch kann, sollte sich unbedingt auch zwei Interviews anhören, die Dr. Kennedy gegeben hat:




Dr. Kennedy ist auf Instagram und hat seinen eigenen Podcast gestartet. Auch da gibt es Goldnuggets, aber die Systematik fehlt dort einfach.



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